Patricia Gee, Partnerin im Bereich Life Sciences bei Deloitte Schweiz, spricht über die Schweiz als Standort im Gesundheitswesen und Deloittes «Future of Health» Initiative.
Patricia, warum haben Sie sich, als Partnerin im Bereich Life Sciences bei Deloitte, auf die Schweiz konzentriert?
Die Schweiz ist ein unglaublich wichtiger Markt für die Pharmaindustrie. In der Life-Sciences-Industrie ist die Schweiz ein Weltmarktführer, der eine grosse Rolle spielt. Es gibt hier ein Ökosystem, das echte Innovationen, höhere Produktivität und eine bessere Nutzung der Ressourcen fördert. Es umfasst Pharma, Biotech, Med-Tech, Gesundheits-Start-ups und weltberühmte wissenschaftliche Zentren.
Gemessen an der Grösse ist die Schweiz der zweitgrösste Exporteur von verpackten Arzneimitteln in der Welt – mit mehr als 10 Prozent des weltweiten Volumens. Über siebzig grosse internationale oder regionale Hauptsitze der Pharmaindustrie sind hier ansässig. Der Basler Pharmasektor investiert jedes Jahr rund 6 Milliarden Franken in Forschung und Entwicklung und die Schweiz liegt bei den F&E-Investitionen auf Platz 4 weltweit.
Die Schweiz ist auch ein hervorragender Ort für Life Science Start-ups. Hier kommen genau die richtigen Faktoren zusammen, um die Innovationstätigkeit zu fördern: ein fortschrittliches Gesundheitssystem, wissenschaftliche Forschung, Patentanmeldungen, Zugang zu Finanzmitteln und, was am wichtigsten ist, Zugang zu Spitzentalenten und Netzwerken. In einer aktuellen Umfrage über Standortfaktoren belegte die Schweiz unter 16 Ländern den ersten Platz, da Start-ups hier ideal gefördert werden. In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Unternehmen in den Bereichen Biotechnologie, medizinischer Geräte und Medizintechnik verdoppelt.
Wenn man alles zusammen betrachtet, das Ökosystem, die Unternehmen, die Forschung und Entwicklung und die Innovationstätigkeit im Bereich der Start-ups, dann kommt der Schweiz eine zentrale Rolle im Life-Sciences-Sektor zu. Daher ist es ganz natürlich, dass ich mich auf die Schweiz konzentriere.
Sie haben erwähnt, dass in der Schweiz über 70 grosse Life-Sciences-Unternehmen ihren Hauptsitz haben. Was macht die Schweiz für diese Unternehmen zu einem so guten Umfeld?
Erstens ist die Schweiz ein stabiles Land – wirtschaftlich, politisch und so weiter. Was sie insbesondere für Life-Sciences-Firmen attraktiv macht, ist meiner Meinung nach die lange Tradition der Innovation. Mit der Schweiz verbindet man Präzision und Qualität. Die Schweizer investieren viel in Forschung und Entwicklung. Es gibt renommierte Universitäten, eine exzellente F&E-Infrastruktur und ein solides Finanzierungsumfeld – alles begleitet von einem starken Schutz des geistigen Eigentums. Auf Grund dieses Innovationsumfelds ist die Schweiz ein begehrter Standort für ausländische Unternehmen.
Es gibt eine starke Life-Sciences-Kultur in der Schweiz und es sind alle Teile der Wertschöpfungskette, von der Forschung und Entwicklung über die Produktion bis zur Vermarktung hier anzutreffen. Die Infrastruktur und das Ökosystem sind hervorragend und ideal für Life-Science-Unternehmen.
Die Schweiz bietet auch eine hohe Lebensqualität; Schweizer Städte schneiden in dieser Hinsicht immer wieder mit Bestnoten ab. Das bedeutet, dass sie ein attraktiver Ort für qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland ist und viele von denen, die kommen, bleiben für immer. Die Schweizer Arbeitskräfte sind gut ausgebildet, mehrsprachig und es herrscht ein echtes internationales Flair in der Belegschaft. Als Neuling ist es einfach, sich sowohl beruflich als auch privat zu integrieren.
Sie leiten die Initiative «Future of Health» von Deloitte in der Schweiz. Können Sie uns erklären, worum es sich dabei handelt?
Future of Health ist Deloittes vorausschauende Analyse, wie Gesundheit und Wohlbefinden in 20 Jahren aussehen werden. Darin skizzieren wir ein Bild der Zukunft, mit dem wir Makrotrends und deren wahrscheinliche Auswirkungen durchspielen. Die Analyse gibt uns, unseren Kunden und Partnern einen Ausblick auf potentielle Auswirkungen dieser Zukunftsperspektive auf kurzfristige Investitionen und strategische Entscheidungen.
Wir sind der Meinung, dass es einen drastischen Wandel vom «Gesundheitswesen» zur «Gesundheit» geben wird. Mit Gesundheit ist allgemeines Wohlbefinden im Sinne von mentalem, sozialem, emotionalem und körperlichem Wohlbefinden gemeint. Die Technologie beschleunigt diese Entwicklung, ebenso wie die zunehmende Verbraucherorientierung im Gesundheitssektor.
Behandlungen werden vorausschauender und weniger reaktiv werden. Die medizinische Versorgung wird sich von den klassischen Einrichtungen wegbewegen und anders angegangen werden. Kunden werden im Gesundheitsbereich zunehmend Zugang zu ihren eigenen Gesundheitsdaten haben, sodass sie fundiertere Entscheidungen treffen können. Zukünftig werden die Ergebnisse der Gesundheitsversorgung auf individueller und gesellschaftlicher Ebene gemessen, anstatt auf Kosten und Volumen zu schauen.
Der Schlüssel zu all dem liegt in der Verknüpfung von Daten mit Hilfe offener Plattformen, die individuelle, bevölkerungsbezogene und umweltbezogene Datensätze in Echtzeit miteinander verbinden und uns zu neuen, revolutionären Erkenntnissen verhelfen.
Gemäss unserer Vision der «Future of Health» wird das Gesundheitswesen zukünftig ganz anders aussehen als heute.
Behandlungen werden vorausschauender und weniger reaktiv werden. Die medizinische Versorgung wird sich von den klassischen Einrichtungen wegbewegen und anders angegangen werden.
Die erste ist Prävention und Früherkennung. Impfstoffe und Verbesserungen im Wohlbefinden werden dazu beitragen, Krankheiten zu verhindern, sodass wir sie nicht mehr behandeln müssen. Fortschritte in der Früherkennung werden Interventionen ermöglichen, die Krankheiten früher eindämmen, bevor es zu ernsteren Erkrankungen kommt.
Der zweite Punkt ist die Entwicklung von massgeschneiderten Behandlungen. Die effizientere Nutzung von Daten wird eine Personalisierung in der Medizin ermöglichen. Das bedeutet, dass wir die Behandlung besser auf den Patienten abstimmen können und es mehr Gewissheit über die Wirksamkeit einer Behandlung geben wird, auch wenn nur eine kleine Gruppe von Menschen auf eine bestimmte Behandlung anspricht.
Der dritte Punkt ist die Einführung von kurativen Therapien. Kurative Therapien behandeln die Krankheit nicht nur, sie gehen noch einen Schritt weiter und heilen sie endgültig. Dies reduziert die Nachfrage nach weiteren Verschreibungen und Eingriffen, sodass langfristig keine Behandlung mehr notwendig ist. Dadurch reduziert sich die Belastung für den Patienten und das Gesundheitssystem.
Auch digitale Therapeutika sollen hier Erwähnung finden. Dabei handelt es sich um digitale Geräte oder Apps, die bei Interventionen helfen können oder die eine Verhaltensänderung herbeiführen sollen, die den Bedarf an Medikamenten reduziert oder ganz eliminiert.
Und schliesslich werden wir massgeschneiderte Behandlungen und präzisionsmedizinische Eingriffe sehen, bei denen immer ausgefeiltere Medizintechnik wie Robotik, Nanotechnologie oder Tissue Engineering zum Einsatz kommt, die den Bedarf an medikamentösen Interventionen reduzieren.
Können Sie uns mehr über massgeschneiderte Behandlungen und deren Auswirkungen erzählen?
Wir wissen, dass jeder Einzelne unterschiedlich auf eine Behandlung anspricht. Das kann von einer Vielzahl von Faktoren abhängen, die körperlicher Art sein können, mit dem Metabolismus oder der Genetik zusammenhängen. Wenn wir Therapien so konzipieren können, dass sie sich an diese Abweichungen anpassen, werden sich sowohl die individuellen Ergebnisse als auch die Gesamtergebnisse verbessern und das System als Ganzes davon profitieren. Um diesen Grad der Anpassung zu erreichen, ist eine grosse Menge an Daten erforderlich. Wir können diese in klinische Studien oder durch Erkenntnisse aus der Praxis sammeln.
Es wurden erhebliche Fortschritte bei der Erforschung von Biomarkern und genetischen Markern erzielt. Sie ermöglichen es uns, Subpopulationen zu segmentieren und gezielt zu behandeln. Diese Daten können uns auch dabei helfen, die Dosierungen individuell anzupassen und personalisierte Dosierungs- und Behandlungspläne aufzustellen, die den individuellen Umständen einer Person entsprechen.
Es gibt bereits Unternehmen, die personalisierte Medikamente herstellen. Dabei werden alle benötigten Medikamente eines Patienten in einer einzigen Tablette kombiniert. Es ist leicht vorhersehbar, dass eine Verlagerung hin zu kleinvolumigen, massgeschneiderten Behandlungen enorme Auswirkungen auf die Lieferkette und die Produktionskapazitäten haben wird.
Was sind digitale Therapeutika und welche Rolle werden sie in der Zukunft spielen?
Digitale Therapeutika sind Technologien oder Lösungen, die nachweislich bessere Ergebnisse bei der Prävention, der Kontrolle oder der Behandlung einer Krankheit erzielen.
Digitale Therapeutika werden bereits zusammen mit traditionellen Medikamenten eingesetzt, um Krankheiten wie Diabetes zu kontrollieren. Aber in Zukunft könnten sie auch als Ersatz für traditionelle medizinische Behandlungen eingesetzt werden. Diese Art von Behandlung ist bereits für neurologische Erkrankungen und Schlafstörungen zugelassen und die Ergebnisse sind äusserst vielversprechend. Sie werden auf jeden Fall einen Einfluss auf den Einsatz von traditionellen pharmazeutischen Behandlungen haben.
Was könnte Ihrer Meinung nach die Attraktivität des Standorts Schweiz für Unternehmen aus dem Bereich Gesundheit und Life Sciences noch steigern?
Die Schweiz steht nicht umsonst ganz oben in den Rankings. Es gibt aber noch einiges Verbesserungspotential bei der Finanzierung, der Diversität und bei dem Mindset. Die Finanzierung in der Schweiz ist generell gut, aber in einigen anderen Märkten ist die Anzahl, die Grösse und die Bandbreite an risikofreudigen Investoren grösser. In Bezug auf das Mindset sind meiner Meinung nach die erfolgreichsten Märkte diejenigen, die Risikobereitschaft belohnen und Scheitern nicht als Niederlage bestrafen, sondern als Chance zur Verbesserung sehen.
Es zeigt sich immer wieder, dass durch mehr Diversität innerhalb eines Systems die Forschung effektiver ist und sie mehr Innovation hervorbringt.
Die Entwicklung dieser drei Punkte ist aufwändig und nicht einfach. Wenn die Schweiz aber daran arbeitet, bin ich überzeugt, dass sie als wichtiger Innovationsstandort im Gesundheitssektor weiter wachsen wird.
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Ein anderes Kaliber
Patricia leitet die Initiative "Future of Health" von Deloitte in der Schweiz. Sie blickt auf mehr als 15 Jahre in der Life Science Branche und dem Gesundheitswesen zurück und verfügt über Sektor übergreifende Erfahrungen im Bereich Biopharma und in Bezug auf Kostenträger, Anbieter und Kapitalmärkte. Sie konzentriert sich auf die nachhaltige Wertschöpfung, sowie die Förderung von Wachstum und Innovation für führende Kunden der Life-Science-Branche. In diesem Rahmen entwickelt sie Strategien für das kommerzielle Portfolio und die Geschäftsbereiche, erarbeitet kundenorientierte Lösungen und lanciert Programme für Commercial Excellence.
Michael ist Deloitte’s Chefökonom in der Schweiz. Er arbeitet seit über zehn Jahren für Deloitte und führt das Schweizer Research Team welches führende Thought Leadership-Publikationen und -Studien erstellt. Er verfügt über Berufserfahrung als Unternehmensberater, Manager in operativen Geschäftsbereichen und Unternehmensgründer. Michael hat einen Uniabschluss in Volkswirtschaftslehre, Marketing und einen Doktor in Betriebswirtschaftslehre.
Daniel ist im Insights Team von Deloitte in Zürich tätig. Er berät Klienten und die Geschäftsleitung in ökonomischen, unternehmerischen und gesellschaftlichen Themenfeldern und spricht evidenzbasierte Handlungsempfehlungen an Unternehmen, die öffentliche Hand und andere Organisationen aus. Bevor er im November 2020 zu Deloitte kam, arbeitete er sechs Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeitender an der Hochschule für Wirtschaft Zürich (HWZ). Daniel hat einen Master in Management der Universität Mannheim und einen Doktor in Betriebswirtschaftslehre der Universität St. Gallen.